Lesen und Schreiben lernen: „Trau Dich, versuch es!“ : Datum: , Thema: Aktuelles
Nicht lesen und schreiben zu können, ist ein gesellschaftliches Tabuthema: Dabei sind hierzulande 7,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter Analphabeten. Das Bundesbildungsministerium ermutigt Betroffene jeden Alters, sich Hilfe zu holen.
781 Millionen Menschen weltweit können nicht lesen und schreiben. Oft schämen sich Betroffene, belügen Freunde, Verwandte und Arbeitskollegen oder tricksen, um ihren Alltag zu meistern. Denn Analphabetismus ist noch immer ein gesellschaftliches Tabuthema. Um das zu ändern, hat die UNESCO den 8. September zum Welttag der Alphabetisierung erklärt. Auch das Bundesforschungsministerium möchte mit dem Tabu brechen: Mit der Kampagne „Nur Mut! Der nächste Schritt lohnt sich“ will es Betroffene ermutigen, sich Hilfe zu suchen.
Jeder siebte Deutsche im erwerbsfähigen Alter kann nicht richtig lesen und schreiben. Das sind 7,5 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren oder 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. Das hat die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Studie leo.-Level-One der Universität Hamburg aufgezeigt. Einer von ihnen ist der Berliner Gerhard Prange, der sich Gerd nennt. Jahrelang sei er „immer gut durchgerutscht“, sagt er. Tricksereien und Notlügen halfen ihm im Alltag. Wenn er einen Einkaufszettel nicht entziffern konnte, kaufte er etwas anderes und behauptete hinterher: „Was Du wolltest, hatten sie heute nicht da.“ Viele Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten entwickeln solche Tricks, um ihren Alltag zu bewältigen.
Ängste und Sorgen prägen den Alltag von Betroffenen
Oft prägen Ängste und Sorgen den Alltag von Betroffenen. So ging es jahrelang auch Peggy Gaedecke. Mit ihrer kleinen Tochter verließ sie nie ihr Stadtviertel. Sie hatte Angst, sie könne den Weg zurück nach Hause nicht finden. Andere Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten schieben Besuche bei Ärzten und Behörden auf, weil sie fürchten, Formulare ausfüllen zu müssen. Sie lehnen Beförderungen ab, aus Sorge vor neuen Aufgaben, die Schreibkenntnisse voraussetzen. „Ich habe meine Brille vergessen“, „Mein Handgelenk ist verstaucht“ – die Zahl der Ausflüchte ist groß und kann auch ein Hinweis für Kolleginnen und Kollegen und Angehörige sein. Zumeist wissen diese nichts von den Lese- und Schreibschwierigkeiten.
Gerd Prange hatte genug von den Ausflüchten. Im Alter von 53 Jahren entschied er sich, noch einmal zur Schule zu gehen und Lesen und Schreiben zu lernen. Auch Peggy Gaedecke entschied sich zu diesem Schritt. Bei beiden waren Erlebnisse mit den eigenen Kindern der Schlüssel zur Motivation: Als die Tochter von Peggy Gaedecke in die Schule kam, konnte die Mutter ihr keine Antworten auf Fragen zu Hausaufgaben oder Schulstoff geben. „Da habe ich gemerkt, dass es so nicht weiter gehen kann.“
"Ich bin selbstbewusster geworden"
An fünf Tagen in der Woche lernte Gaedecke in einer Kleingruppe bei einem Grundbildungsträger nachträglich Lesen und Schreiben. Schon der erste Tag im Kurs war wie eine Befreiung: „Bis dahin dachte ich immer, dass ich mit meinem Problem allein auf der Welt bin.“ Jetzt weiß sie, dass es nicht so ist, und ist froh, sich Hilfe geholt zu haben: „Ich bin selbstbewusster geworden und traue mir viel mehr zu, seit ich lesen und schreiben kann“, sagt Gaedecke heute.
Auch Gerd Prange braucht keine Ausreden mehr, weder beim Einkaufen noch in anderen Lebenslagen. Bei ihm gab ebenfalls die Tochter den Ausschlag: Er ging zur Arbeitsagentur und bat um Vermittlung eines Kurses für Lesen und Schreiben. Dort bekam er Hilfe und sagt heute: „Ich habe sofort Fortschritte gesehen. Das hat richtig Spaß gemacht.“ Prange rät allen Menschen, die ebenfalls Lese- und Schreibschwierigkeiten haben, sich weiterzubilden: „Trau Dich und versuch es!“