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„Lesen und schreiben zu können, bedeutet Freiheit“ : , Thema: Bildung

Aus Angst, sich zu verlaufen, verließ Ute H. jahrelang nie ihren Kiez. Denn selbst Straßenschilder waren für die funktionale Analphabetin eine Hürde. Lesen und Schreiben hat sie mittlerweile gelernt – und genießt die neu gewonnene Freiheit.

Babynahrung einkaufen, Formulare beim Kinderarzt ausfüllen, mit den Kindern in den Zoo fahren oder ihnen bei den Hausaufgaben helfen: Was für viele Menschen selbstverständlich ist, war für Ute H. jahrelang eine Herausforderung. Denn sie konnte fast ein halbes Jahrhundert lang nicht richtig lesen und schreiben. Einfache Wörter, knappe Sätze – das ging mit Müh und Not; Texte oder schwierige Wörter – eine unüberwindbare Hürde. Funktionale Analphabeten nennt man Menschen, denen es wie Ute H. geht. Und was viele nicht wissen: Das sind 7,5 Millionen Menschen in Deutschland. Jeder siebte Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren kann nicht richtig lesen und schreiben. Doch es ist nie zu spät, es noch zu lernen: Mit der Informationskampagne „Besser lesen und schreiben“ will das Bundesbildungsministerium Betroffene ermutigen, sich Hilfe zu suchen.

Gefangen in einer Welt ohne Buchstaben

Ute H. hatte den Mut. „Das war ein schwerer Schritt“, erinnert sie sich. Versagensängste und Scham: All das musste sie hinter sich lassen. Aber sie wollte es unbedingt schaffen. Sie hatte genug davon, eine Gefangene in einer Welt ohne Buchstaben zu sein, in der sie sich nach und nach selbst verlor. „Ich verreiste nie, aus Angst vor der Fremde; blieb in meinem Kiez, um mich nicht zu verlaufen; hatte keine Freunde, da ich mich zurückzog – ein Teufelskreis“, sagt die heute 57-jährige Berlinerin.

Funktionale Analphabeten kaschieren oft ihr Geheimnis

Mit dieser Erfahrung ist Ute H. nicht allein. Oft prägen Ängste und Sorgen den Alltag von Betroffenen. Viele entwickeln Strategien, um ihr Geheimnis zu kaschieren: „Ich habe meine Brille vergessen. Das ist zu klein geschrieben. Meine Hand ist verstaucht. Ich nehme die Unterlagen mit nach Hause.“ Die Liste der Ausflüchte ist mitunter lang – und kann ein Hinweis für Kollegen, Freunde und Angehörige sein. Ute H. hat aus ihrer Schwäche nie einen Hehl gemacht. Zuhause bat sie ihre Schwester beim Lesen und Schreiben um Hilfe. Später las ihre 10-jährige Tochter ihr Briefe vor. Auch auf der Arbeit kam sie klar. Sie schlug sich als Zimmermädchen, Küchen- oder Kantinenhilfe durch. Doch rückblickend sagt sie: „Hätte ich in der Schule richtig lesen und schreiben gelernt, wäre mein Leben viel leichter gewesen.“

Durch die Schule sei sie einfach „durchgerasselt“, erzählt Ute H. „Ich habe acht Geschwister – viele stempelten unsere Familie als asozial ab“, sagt die 57-Jährige. Ob Mitschülerinnen und Mitschüler, Lehrerinnen und Lehrer: Nie habe jemand an sie geglaubt. Unterstützung gab es für sie nicht. In ihrem Elternhaus spielte Lesen und Schreiben keine Rolle. Streit, Vernachlässigung und Gewalt waren an der Tagesordnung.

Die engen Grenzen der Welt ohne Buchstaben sind Vergangenheit

Ihre Vergangenheit hat Ute H. hinter sich gelassen. Mit Anfang 50 fing sie neu an: Sie ging wieder zur Schule, um Lesen und Schreiben zu lernen. Mittlerweile macht sie nur noch wenige Fehler. Dadurch habe sich ihr ganzes Leben verändert. „Lesen und schreiben zu können, bedeutet Freiheit“, sagt sie. Mit den Enkelkindern in den Zoo gehen, ihnen Gute-Nacht-Geschichten vorlesen, mit Freunden oder den Kindern chatten, nach Rezept kochen, mit der Bahn fahren oder in den Urlaub fliegen: Die engen Grenzen der Welt ohne Buchstaben sind Vergangenheit.

Mit ihrer Geschichte möchte Ute H. anderen Betroffenen Mut machen, sich Hilfe zu suchen. Gemeinsam mit dem „Alpha-Mobil“ des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung e.V. geht sie daher regelmäßig auf Tour durch Deutschland, um potentielle Kursteilnehmende und deren Freunde, Angehörige oder Arbeitskollegen zu beraten. Ihre Botschaft: „Es ist nie zu spät, lesen und schreiben zu lernen. Jeder kann das schaffen – man muss nur an sich glauben.“

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